20. August 2019
Die tätowierten Frauen der Chin
Ihr gesamtes Antlitz ist mit einer spinnenartigen Tätowierung versehen, das Muster zieht sich sogar über die Augenlider.
„An dieser Stelle hat das Tätowieren damals besonders weh getan“, erzählt sie mir, „aber was soll man machen, so verlangte es die Tradition.“ Mein Guide Tom spielt den Übersetzer. Ob auch ihre Mutter tätowiert war, möchte ich wissen. „Ja, die Mutter, die Großmutter, die Urgroßmutter, alle von ihnen wurden im Alter von etwa 8 Jahren tätowiert“. Ihre vier Nachbarinnen, ebenfalls tätowiert, nicken zustimmend mit dem Kopf.
Schon vor Ankunft in den Chindörfern, die man von Mrauk U aus mit dem Boot in einer zweistündigen Fahrt erreicht, versucht mich Tom auf meinen Besuch bei den „Tattoo-Ladies“ einzustimmen. Insgesamt besuchen wir drei Chin-Dörfer. „Manchmal trifft man sie in den Dörfern gar nicht an, sie sind in den Bergen oder auf den Feldern unterwegs. Oder sie besuchen ihre Nachbarn. Außerdem sind sie noch nicht lange sesshaft.“
Mit dem Boot machen wir am Ufer des ersten Dorfes fest und klettern die Böschung empor. Unser Weg führt an Kürbisfeldern vorbei. Die meisten Häuser stehen auf Stelzen, die Wände sind aus Bambusmatten hergestellt. Wer etwas auf sich hält, hat sein Dach mit Blech gedeckt. „Zu heiß in der Trockenzeit und zu laut in der Regenzeit“, befindet Tom. Vor einem kleinen Geschäft sitzen zwei Frauen und tratschen. Plötzlich kommt eine ältere Frau auf mich zu und reicht mir die Hand. Ihr Gesicht ziert ein tätowiertes Spinnennetz.
Heute ist ein Festtag, sie lädt uns zum Essen ein. Sie zeigt in eine Richtung, aus der viel zu laute Musik kommt. Ein Kloster soll errichtet werden, der erste Grundstein wurde bereits betoniert. Die Menschen im Dorf sammeln Spendengelder um den Bau voranzutreiben. Leider habe ich keinen Hunger. Das Stück Wassermelone kann ich jedoch nicht ablehnen. Wir spazieren weiter zur Schule. Mein Guide Tom kennt alle beim Namen und alle kennen ihn. So werden wir ständig gefragt, warum wir nicht beim Essen sind. Heute ist doch ein Festtag!
Im nächsten Dorf lande ich dann bei der gesprächigen und geschäftstüchtigen Damenrunde. Wie aufgefädelt sitzen wir unter einem Dach. Ich mustere sie, sie mustern mich, bis einer von ihnen auffällt, dass ich keinen Armreifen trage. Für 5000 Kyat (umgerechnet 3, 50 Euro) würde sie mir einen verkaufen. Schon hat sie das silberne (oder blecherne) Ding von ihrem Handgelenk entfernt und will es mir umlegen. Doch gegen die schmale Dame mit ihrem zarten Handgelenk bin ich ein Goliath, mein Handgelenk ist zu breit. Ihre Nachbarin übernimmt das Kommando, nestelt unter ihrer Bluse einen Armreif hervor und wagt einen zweiten Versuch, der ebenfalls scheitert. Ich hänge mir den Armreif um meinen Daumen. Großes Gelächter.
Hinter uns sitzt eine jüngere Frau und webt einen knallbunten Schal. Die bunten Tücher sind mir schon längst aufgefallen, sie hängen an mehreren Zäunen des Dorfes. Jede der Frauen versucht mich zu überzeugen, ihr einen Schal abzukaufen. Doch zum Tragen ist das Gewebe zu grob. Trotzdem marschiere ich von Zaun zu Zaun, befühle das Material zwischen Daumen- und Zeigefinger und nicke anerkennend. Die Frauen der Chin begleiten mich auf der Runde, schließlich wandern wir gemeinsam zum ersten Haus zurück.
Inzwischen hat eine junge Frau auf der überdachten Veranda Platz genommen. An ihrer Brust nuckelt ein Baby. Sie dreht sich zu Tom, fragt ihn etwas und schaut in meine Richtung. Tom gibt die Frage weiter: „Wie verhütest Du?“. Äh, wie? Was? Habe ich die Frage richtig verstanden? Die alten Damen schauen mich erwartungsvoll an. Ein alter Mann, der bisher in einer Ecke der Veranda geschlafen hat, dreht den Kopf zu mir.
„Äh, mit der Pille“, antworte ich zögernd. Tom übersetzt. Beifallendes Gemurmel setzt ein. Hier verhüten die meisten jungen Frauen mit der Spritze, erklärt mir Tom, doch er persönlich fände die Pille besser. Plötzlich reden alle durcheinander. Die junge Frau hat bereits drei Kinder, das sei genug, findet sie. Ihre Schwiegermutter ist mit dieser Antwort nicht einverstanden, „Sollen die Kinder kommen, wie sie kommen“, murmelt sie. Zwischen Tom und dem älteren Mann entspinnt sich ebenfalls eine Diskussion. Ich werde mit Fragen bombardiert. „Wie viele Kinder hat eine Familie in deinem Land? Wie weit hast du es bis zum nächsten Arzt?“ und „Wie viele Frauen darf ein Mann in deinem Land heiraten?“
Ich erfahre, dass es in der Gegend möglich ist, als Mann eine Zweitfrau zu ehelichen. Die Erstfrau muss jedoch ihre Zustimmung geben. Gesetzlich erlaubt ist es nicht. Auch um dieses Thema entspannen sich Diskussionen. Meine Sitznachbarin ist nicht gewillt, ihren Mann zu teilen. Ich schlage ihr vor, einen zweiten Mann zu heiraten. „No, no, too old“, gluckst sie, ein Funkeln in den Augen.
Zum letzten Mal komme ich auf die Tätowierungen der Chin zu sprechen. Ich möchte wissen, warum es keine Gesichtstätowierungen mehr gibt. Tom übersetzt. „ Es gab plötzlich keine Tätowierer mehr“, erklärt mir eine der Damen. „ Es wurde verboten“, sagt eine andere. „Wir wollten unsere Kinder nicht mehr tätowieren lassen“, sagt die dritte.
Mit einem Winken verabschiede ich mich von den tätowierten Frauen der Chin. Zum Schluss habe ich ihnen doch noch einen bunten Schal abgekauft. Erfreut winken sie zurück.
Die Reise nach Myanmar erfolgte auf Einladung von Reisefieber – Der Asien-Spezialist seit über 30 Jahren.
Das Volk der Chin lebt abgeschieden in den Dörfern am Lemro Fluss. Es gibt mehr als 40 Untergruppen, die sich in Sprache und Kultur unterscheiden. Einige wenige Dörfer haben sich auf Touristen eingestellt. Es gibt unterschiedliche Erklärungen, warum die Frauen der Chin tätowiert wurden.
Eine besagt, dass ein burmesischer König die schönen Chinfrauen entführen wollte. Mithilfe der Tätowierungen machte man sie hässlich. Diese Tradition wurde fortgesetzt.
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Am liebsten würde ich als Wolkenbeobachterin in einem Baumhaus leben. Bis zur Decke vollgestopft mit Büchern, versteht sich. Denn die verschlinge ich, seit ich denken kann. Ich bin eine Vielleserin, durch und durch. Irgendwann hab‘ ich selbst mit dem Schreiben angefangen. Weil ich mich erinnern möchte. Weil sich auf Papier gebracht vieles leichter sagen lässt. Weil ich kleinen und großen Dingen mit den richtigen Worten das nötige Gewicht verleihen will. Wie eine Geschichtenerzählerin. Meine Texte packe ich wie Geschenke in Formulierungen ein – und der Leser packt sie aus.